Alles eine Frage der Zeitung
23. November 2005 | Von E. S. | Kategorie: Feuilleton | Keine Kommentare |Wenn ein Mensch von einem Hund gebissen wird, ist das keine Meldung wert. Wird aber ein Hund von einem Menschen gebissen, so kommt das auf die Titelseite (türkische Redensart). Getreu diesem Motto wird in Die Welt über ein Ehrenmord in der Türkei, bei der aber diesmal nicht eine Frau, sondern ein Mann das Opfer war, berichtet. Die Welt fügt hinzu, dass in der Türkei – aber auch in Deutschland – immer wieder Ehrenmorde an Frauen begangen wurden.
Die Resonanz des Artikels finde ich in Handakte WebLAWg wieder. Ebenfalls überrascht darüber, dass es einen Mann getroffen hat, war der Artikel ein Blog wert.
Ich ärgere mich immer und immer wieder über die deutsche Presselandschaft, weil sie ein verzerrtes Bild vermittelt, die an den Realitäten weit vorbeigehen. In Bezug auf Ehrenmorde wurden in der Türkei in den letzten fünf Jahren 64 Straftaten begangen (Quelle: Generalstaatsanwaltschaft). 28 Straftaten wurden dabei gegenüber Frauen und 36 gegenüber Männern verübt. In Deutschland wird dem Leser allerdings (wie jetzt auch in die Welt) nahe gebracht, als wären fast immer Frauen betroffen und Opfer männlicher Gewalt.
Ich denke, dass man kein Sozialwissenschaftler sein muss, um zu erkennen, dass der deutschen Medienlandschaft, eine Frau in der Rolle des Opfers besser schmeckt weil sie besser in das Bild der unterdrückten türkischen Frau mit Kopftuch passt. In der Türkei dagegen hat man Ehrenmorde als ein soziales Problem erkannt. Die türkische Presse beschäftigt ein Ehrenmord einer Frau nicht mehr oder weniger als ein Ehrenmord an einer Frau.
Es ist alles eine Frage der Zeitung. (Dr. phil. Michael Richter (*1952), deutscher Zeithistoriker)
Ekrem Senol – Köln, 23.11.2005