Ein ganz bitteres Kapitel der Migrationsgeschichte und der Gegenwart
2. April 2009 | Von E. S. | Kategorie: Leitartikel, Politik | 2 Kommentare |„Zugleich müssen wir anerkennen, dass auch wir es Zuwanderern nicht immer einfach gemacht haben, den Erwartungen gerecht zu werden. In Deutschland wurden in den 70er und 80er Jahren viele ausländische Kinder nur wegen Sprachschwierigkeiten an Sonderschulen verwiesen.“
Mit diesen Worten hatte Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble am 25.03.2009 während einer Veranstaltung der Türkischen Gemeinde in Deutschland „ein ganz bitteres Kapitel in unserer Migrationsgeschichte“ eingeräumt und ausgesprochen, was hierzulande häufig unerwähnt bleibt, wenn es darum geht, die Integrationsleistungen bzw. –defizite der Migranten auf dem Bildungs- und Arbeitsmarkt festzumachen.
So selbstkritisch die Worte Schäubles auch waren, so unvollständig waren sie.
Seit den 80er Jahren untersucht beispielsweise Prof. Dr. Reimer Kornmann (1) die Bildungsbeteiligung ausländischer Schüler. Als ein wesentlicher Indikator für eine systematische Benachteiligung führt er den Sonderschulbesuch für Lernbehinderte aus. Die Untersuchungen von Prof. Kornmann zeigen, dass ausländische Kinder und Jugendliche in Sonderschulen für Lernbehinderte deutlich überrepräsentiert sind – und dies seit nunmehr fast zwei Jahrzehnten. Ihre Sonderschulbesuchsquote liegt im Bundesdurchschnitt etwa doppelt so hoch wie bei deutschen Kindern und Jugendlichen. (2)
In Baden-Württemberg beispielsweise besuchten ausländische Schüler über die Jahre 1992 bis 2002 durchschnittlich sogar 3,58 Mal häufiger die Sonderschule als nichtausländische Schüler. In Niedersachsen stieg diese Quote von 2,34 im Jahre 1992 auf über drei im Jahre 2002; ähnlich verhält es sich im Saarland: 2,03 im Jahre 1992, 3,04 im Jahre 2002 (3).
Dabei sind mangelnde Sprachkenntnisse auch heute oft der Anlass für eine Sonderschulüberweisung. Und das, obwohl „faktisch kein Beleg dafür gefunden werden kann, dass Sonderschulen besondere Kompetenzen in der Vermittlung von (Fremd-)Sprachen und der Anwendung von Didaktik besitzen, die zur Ãœberwindung von Problemlagen nicht-deutscher Jugendlicher beitragen“, stellen Sandra Wagner und Justin J.W. Powell vom Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in ihrer Studie (4) fest.
Und selbst bei guten Leistungen in der Grundschule wird meistens vom Besuch eines Gymnasiums abgeraten, da aufgrund der sprachlichen Schwierigkeiten ein Scheitern vorausgesagt wird. Selektionsentscheidungen an den verschiedenen Schnittstellen wie Einschulung, Ãœbergang zu weiterführenden Schulen sowie Sonderschul-Aufnahmeverfahren werden nach komplexen organisatorischen Kalkül gefällt: Zu volle oder zu leere Klassen, fehlende Kindergartenzeiten oder der soziale- und Migrationshintergrund entscheiden letztlich über die Schulempfehlungen und Versetzungen. Danach werden Benachteiligungen von der „Institution Schule“ selbst erzeugt. (5)
Auch die Auswertung der KMK-Schulstatistik und ergänzende Daten des Statistischen Bundesamtes (6) zeigen den Befund der systematischen Bildungsbenachteiligung von Ausländerkindern ebenso wie aktuelle Ausführungen von Prof. Dr. Christiane Bender: „Auffällig hoch ist der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund, die eine Sonderschule besuchen. An der wichtigsten institutionellen Schaltstelle, der Schule, wird derzeit die Integration der Kinder verfehlt – mit schwerwiegenden Auswirkungen auf die Entwicklung ihrer sozialmoralischen Persönlichkeit und auf ihre spätere Erwerbsbiographie. Der Zugang zum Arbeitsmarkt wird nur mit großen Schwierigkeiten zu erlangen sein.“ (7)
„Bundesweit besucht fast jeder zwanzigste Schüler eine Sonderschule. Hier sitzen die körperlich und geistig Behinderten, aber auch die Armen, die Vernachlässigten, die Aggressiven und die Migranten.“ (B. Taffertshofer, Süddeutsche Zeitung).
Die Eingangs erwähnten Worte Wolfgang Schäubles, so gut sie in einer Veranstaltung mit vielen Migranten auch ankommen mögen, zeigen, woran die Integrationspolitik Deutschlands krankt: Zugeständnisse werden gemacht, wenn man nicht persönlich belangt werden kann oder man vor einem Publikum sitzt, die nicht deutsch ist. Seit Amtsantritt Schäubles, seit Anberaumung des Integrationsgipfels und im Grunde schon je her wird, wenn über Integration von Migranten gesprochen wird, betont, wie wichtig Sprache, Bildung und Ausbildung ist. Über die Bedeutung und Auswirkungen von Benachteiligungen im Schulwesen allerdings wird geschwiegen obwohl zahlreiche Soziologen seit vielen Jahren auf Missstände aufmerksam machen.
Studien, die die angebliche Unfähigkeit, -lust oder –willen von Migranten zeigen sollen, werden auf gemeinsamen Pressekonferenzen höchstpersönlich der deutschen Presselandschaft bekannt gemacht. Sorgfältig vorbereitete Reden – inklusive schlagzeilengeeignete Sätze – werden vor einem Schaar gieriger Journalisten gehalten, die oft nur darauf aus sind, den Migranten an die Wand zu malen.
Geht es allerdings um das Eingemachte, um eigene Defizite, die teilweise von der breiten Gesellschaft getragen werden, wird geschwiegen. Allenfalls ist von „Versäumnissen der Vergangenheit“ die Rede, die von nun an – gemeint ist meistens die Zeit ab Amtsantritt der eigenen Person – behoben werden sollen, aber nie von tatsächlichen Diskriminierungen der Gegenwart, wie sie tagtäglich unzählige Male in Deutschland anzutreffend sind, wie bei der Wohnungs- oder Ausbildungsplatzvergabe oder eben bei der Verweisung auf eine weitergehende Schule, um nur einige zu nennen.
Mit der Begrenzung der Problematik auf die 70er und 80er Jahre versucht auch Wolfgang Schäuble die Problematik als bewältigt, gelöst, ja als Geschichte abzutun. Dass dem nicht so ist, belegen die oben aufgeführten sowie viele weitere Studien zur Problematik, die hier unerwähnt bleiben mussten, um den Rahmen nicht zu sprengen. Sie attestieren auch heute noch eine institutionelle Diskriminierung ausländischer Kinder an deutschen Schulen, genauer: Deutscher Lehrer und Schuldirektoren, ohne pauschalisieren zu wollen.
Die seit einigen Jahren an der Tagesordnung stehende frühkindliche oder vorschulische Sprachförderung ist gewiss ein Weg in die richtige Richtung. Doch werden gute Deutschkenntnisse nur so lange helfen, wie ein Ahmet oder eine Ayse nicht einer Lehrerin zugewiesen wird, die die Schüler bereits auf Grund ihrer Migrationshintergründe skeptischer beäugt und strenger bewertet, als einen Thomas oder eine Sandra, wie die Studien belegen.
Parallel zu den bereits eingeleiteten Integrationsmaßnahmen gehört daher auch ein öffentlicher Diskurs über die institutionelle Benachteiligung an den Schulen Deutschlands. Dies ist erforderlich, damit Verantwortliche sensibilisiert werden und reflektieren können, wie sehr sie der Gesamtgesellschaft schaden, wenn sie Potenziale aufgrund von Sprachmängel, die in übersehbarer Zeit behebbar wären, für immer vergeuden.
An dieser Stelle sind Politiker aufgefordert, Studien der oben aufgeführten Art ebenso einem breiten Publikum bekannt zu machen, wie Studien über Kriminalitätsraten von Menschen mit Migrationshintergrund. Die Zukunft eines Kindes wegen seiner Herkunft für immer zu verbauen, wiegt schließlich nicht minder schwerer als ein Fall aus der polizeilichen Kriminalitätsstatistik. Dies insbesondere vor dem Hintergrund, dass Kinder mit mangelhafter Bildung mit einer ungleich höheren Wahrscheinlichkeit strafrechtlich in Erscheinung treten, als Kinder, die die Schule aufgrund einer fairen Chance ordentlich abschließen konnten.
- Pädagogische Hochschule Heidelberg
- Siehe auch: Schieflagen im Bildungssystem – Die Benachteiligung der Migrantenkinder
- Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft: Ausländerkinder werden systematisch benachteiligt [pdf]
- Daten und Fakten zu Migrantenjugendlichen an Sonderschulen in der Bundesrepublik Deutschland [pdf]
- Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke von der Universität Frankfurt/Main in ihrer Studie „Institutionalisierte Diskriminierung von Migrantenkindern – Die Herstellung ethnischer Differenz in der Organisation Schule“
- http://www.isoplan.de/aid/index.htm?http://www.isoplan.de/aid/2005-4/statistik.htm
- http://www.hsu-hh.de/bender/index_6UEZNKnS0CQwS6IJ.html
Es handelt sich um ein fortgeschriebenes, sich weiter verstärkendes Schandkapitel, wie ich meinen will – wobei sich die Schande eindeutig und unmißverständlich auf die deutschen „Sonder“-Pädagogen bezieht, die Sprachschwierigkeiten mit mangelnder Intelligenz gleichsetzen.
In einem kleinen Vorort einer großen Stadt im Ruhrgebiet habe ich allein im letzten halben Jahr mehr als 20 Elternpaare beraten, um ihre Kinder (teils LRS-Kinder, teils aber lediglich schüchterne Kinder) vor der AusSONDERschule zu bewahren. Gut, das das Direktorat der örtlichen Grundschule Argumenten eher aufgeschlossen ist – die konkrete LehrerInnenschaft ist es längst nicht immer. Es ist viel Anstrengung um jedes einzelne Kind notwendig, um es vor dem völligen Zusammenbruch der beruflichen und gesellschaftlichen Chancen zu bewahren (AusSONDERungsschule heißt in Deutschland halt in der Regel: „beschützte Werkstätte“ für sog. „behinderte Menschen“: also unter Aufsicht von Sonder- und Sozialpädagogen erwerbslebenslang von jeglicher Selbstbestimmung ferngehalten zu werden.
Es ist ein Eichhörnchengeschäft, ein tägliches, aber: dringend notwendig. Die Unterstützung der politischen Akteure sowie die Abschaffung der Zwangssonderbeschulung (gem. bereits ratifizierter UN-Resolution) ist unverzichtbar. Jegliche AusSONDERung von Kindern – aufgrund ihrer ethnischen Herkunft, ihrer Religion oder einer wie auch immer konstruierten sogenannten „Behinderung“ – ist abzulehnen UND entspricht auch nicht -mehr- der Gesetzeslage. Diese gilt es jetzt je individuell, jedoch stets solidarisch durchzusetzen.
Z.
P.S.: Joo, mich gibts noch. Immer wieder und immer mehr 😉
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Merci pour cet article intéressant. Bien à vous…….