Aufenthaltsrecht türkischer Kinder auch bei dauerhafter Arbeitslosigkeit

3. Oktober 2008 | Von | Kategorie: Leitartikel, Recht | Keine Kommentare |

Ein türkischer Staatsangehöriger, der als Kind die Genehmigung erhalten hatte, im Rahmen der Familienzusammenführung in einen Mitgliedstaat einzureisen, und der das Recht auf freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80, erworben hat, verliert das von diesem Recht auf freien Zugang abgeleitete Aufenthaltsrecht im betreffenden Mitgliedstaat nicht, auch wenn er – als inzwischen 23-Jähriger – seit der Beendigung des Schulbesuchs im Alter von 16 Jahren keiner Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis nachgegangen ist und an staatlichen Berufsförderungsprogrammen zwar teilgenommen, sie aber nicht abgeschlossen hat.

EuGH

EuGH

Diese Antwort hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) auf die folgende Frage gegeben:

Verliert ein türkischer Staatsangehöriger, der als Familienangehöriger die Genehmigung erhalten hat, zu seinem in Deutschland lebenden Vater zu ziehen (Familiennachzug), der als türkischer Arbeitnehmer dem regulären Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland angehörte, und der aufgrund früheren fünfjährigen ordnungsgemäßen Zusammenlebens mit diesem die Rechtsposition nach Art. 7 Abs. 1 zweiter Gedankenstrich des Beschlusses Nr. 1/80 erworben hat, diese Rechtsstellung dadurch, dass er nach Beendigung des Schulbesuchs über mehr als sieben Jahre hinweg bis auf einen angeblichen eintägigen Arbeitsversuch zu keinem Zeitpunkt einer Erwerbstätigkeit nachgegangen ist, zudem sämtliche auf Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gerichteten staatlichen Fördermaßnahmen abbricht und sich selbst nicht ernsthaft um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit bemüht, und stattdessen abwechselnd von öffentlichen Sozialleistungen, Zuwendungen seiner in Deutschland lebenden Mutter und Mitteln unbekannter Herkunft lebt?

Dieser Entscheidung lag folgender Sachverhalt zugrunde:

Herr Er (geb. 1984 in der Türkei) zog im Jahre 1986 nach Berlin zu seinem Vater (Arbeitnehmer in Deutschland). Mit diesem lebte er mindestens fünf Jahre im Bundesgebiet zusammen. Der Vater kehrte später ohne seine Familie in die Türkei zurück.

Herr Er beantragte im Jahr 1998 erstmals eine Aufenthaltserlaubnis, die ihm für die Dauer von anderthalb Jahren erteilt wurde.

Im Jahr 2000 verließ Herr Er im Alter von 16 Jahren die Schule ohne Abschluss. Seine Aufenthaltserlaubnis wurde bis zum 21. März 2002 verlängert.

Herr Er beantragte im Jahr 2002 erneut eine Aufenthaltserlaubnis, die ihm mit Gültigkeit bis April 2003 erteilt wurde. Herr Er beantragte sodann eine Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis, die ihm für ein Jahr gewährt wurde, obwohl sich seine Situation dahin gehend geändert hatte, dass seine Mutter nicht mehr für seinen Unterhalt aufkam und er vier Monate lang Hilfe zum Lebensunterhalt bezogen hatte. Die zuständige Ausländerbehörde forderte von Herrn Er jedoch nachweisliche Bemühungen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit.

Herr Er nahm an einem Lehrgang zur Verbesserung seiner beruflichen Bildungs- und Eingliederungschancen teil, brach ihn aber wegen mangelnder Eignung ab. Er bezog einen Monat lang Sozialhilfe und meldete sich arbeitslos.

Im September 2004 stellte Herr Er erneut einen Verlängerungsantrag.

Anlässlich der Prüfung dieses Antrags unterhielt sich die Ausländerbehörde mehrfach mit Herrn Er. Dieser gab an, dass er bemüht sei, eine Arbeitsstelle zu finden, dass ihm bei Vorlage eines positiven polizeilichen Führungszeugnisses eine solche voraussichtlich vermittelt werde und dass er sich nochmals bei der Ausländerbehörde melden werde. Diese Erklärungen blieben jedoch ohne Folgen, und es kam nicht zu einer Arbeitsaufnahme. Herr Er bezog für die Dauer von 18 Monaten Arbeitslosengeld II.

Mit Verfügung vom 17. August 2005 lehnte die Ausländerbehörde den im September 2004 gestellten Verlängerungsantrag von Herrn Er ab und forderte ihn unter Androhung der Abschiebung in die Türkei auf, innerhalb einer bestimmten Frist auszureisen.

In dieser Verfügung ist ausgeführt, dass ein im Rahmen des Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 gewährtes Aufenthaltsrecht voraussetze, dass der Betroffene im maßgeblichen Zeitpunkt der Geltendmachung des Anspruchs dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe und auch in absehbarer Zeit eine reale Vermittlungschance bestehe. Eine Begrenzung des Aufenthalts zur Stellensuche auf sechs Monate sei im Grundsatz nicht zu beanstanden.

Am 9. September 2005 legte Herr Er gegen diese Verfügung Widerspruch ein, über den bisher noch nicht entschieden wurde. Er stellte zudem einen Eilantrag beim Gericht, das die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs anordnete.

Im Eilverfahren trug Herr Er vor, er bemühe sich um Arbeit. Er legte ein Schreiben des Berufsbildungswerks Frankfurt am Main vom 20. Dezember 2005 vor, in dem er zur Teilnahme an einem einmonatigen Berufsförderungsprogramm eingeladen wurde. Herr Er begann dieses Programm, brach es jedoch mit der Begründung ab, dass es nicht seinem Profil entspreche. Der Bericht, in dem die Fähigkeiten von Herrn Er bewertet wurden, kam zu dem Ergebnis, dass dieser in der Eignungsdiagnostik schwach sei, sehr wenig Ausdauer habe und unpünktlich sei. Eine sofortige Vermittlung in Arbeit werde für sinnvoll erachtet, da eine weiter gehende Qualifikation nicht sinnvoll sei. Für einfache und immer wiederkehrende Arbeiten sei Herr Er hingegen geeignet.

Herr Er wurde anschließend an eine Vermittlungsagentur für Flughäfen vermittelt, die ein Bewerbertraining vorsah. Aufgrund des positiven Verlaufs des Bewerbertrainings, an dem er ab Anfang Februar 2006 teilnahm, war Herr Er für die Einstellung als Gepäckabfertiger am Frankfurter Flughafen vorgesehen. Das Gericht weist darauf hin, dass es gleichwohl nicht zur Weiterleitung der Bewerbungsmappe an den vorgesehenen Arbeitgeber gekommen sei, weil Herr Er kein polizeiliches Führungszeugnis vorgelegt habe.

Das Gericht verweist ferner auf einen Vermerk der Bundesagentur für Arbeit vom 18. August 2006 über eine Vorsprache von Herrn Er. Danach habe dieser keine Bemühungen zur Eingliederung in Arbeit gezeigt. Er habe zudem Schuldenprobleme, und seine Mutter wolle, dass er die Familienwohnung verlasse.

Nach Abschluss des Eilverfahrens erhob Herr Er am 22. Januar 2007 Klage. Mit dieser begehrt er die Verpflichtung der Ausländerbehörde, seine Aufenthaltserlaubnis zu verlängern; er habe hierauf einen Rechtsanspruch aus Art. 7 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80, und zwar unabhängig von der Frage, ob er im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausübe oder eine solche anstrebe.

Derzeit beziehe Herr Er keine Sozialleistungen, angesichts der fehlenden Bereitschaft zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit werde er seinen Lebensunterhalt aber dauerhaft nur durch Sozialleistungen sichern können.

Rechtlicher Rahmen:

Art. 6 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80:

„Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat

  • nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
  • nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung – vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs – das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaates eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
  • nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.“

Art. 7 des Beschlusses Nr. 1/80:

„Die Familienangehörigen eines dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehörenden türkischen Arbeitnehmers, die die Genehmigung erhalten haben, zu ihm zu ziehen,

  • haben vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs das Recht, sich auf jedes Stellenangebot zu bewerben, wenn sie dort seit mindestens drei Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben;
  • haben freien Zugang zu jeder von ihnen gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis, wenn sie dort seit mindestens fünf Jahren ihren ordnungsgemäßen Wohnsitz haben.
  • Die Kinder türkischer Arbeitnehmer, die im Aufnahmeland eine Berufsausbildung abgeschlossen haben, können sich unabhängig von der Dauer ihres Aufenthalts in dem betreffenden Mitgliedstaat dort auf jedes Stellenangebot bewerben, sofern ein Elternteil in dem betreffenden Mitgliedstaat seit mindestens drei Jahren ordnungsgemäß beschäftigt war.“

Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80:

„Dieser Abschnitt gilt vorbehaltlich der Beschränkungen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.“

EuGH, 25.09.2008 – Az.: C-453/07

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