Das Gesetz der Fremde – Teil 7: Pluralismus als Lebenswirklichkeit und Vorgabe der Verfassung
26. September 2008 | Von E. S. | Kategorie: Gastbeiträge, Leitartikel | Keine Kommentare |Unsere Gesellschaft ist sowohl vielfältig, als auch vielschichtig. Sie beruht auf Heterogenität und Differenz.
Auch im Hinblick auf mansche in Fachkreisen noch rege geführte Diskussion frage ich: Welche Leitkultur oder welchen tatsächlichen Wertekonsens hat nun diese Gesellschaft, deren Individuen sich konservativ, liberal, sozial-demokratisch, links, apolitisch, religiös, protestantisch, katholisch, jüdisch, muslimisch, atheistisch und vieles andere mehr nennen? Haben wir neben den normativen Werten des Grundgesetzes einen weitergehenden tatsächlichen Wertekonsens in der Gesellschaft? Wird damit nicht eine Homogenität konstruiert, die in unserer Gesellschaft aufgrund ihrer Pluralität gerade nicht vorhanden ist und sein kann?
Wertekonsenses in der Gesellschaft über den Verfassungswerten hinaus bedeutet Leitkultur – einer mehr konstruierten als tatsächlich vorhandenen Homogenität. Diese Annahme impliziert die Vorstellung von der unterschiedlichen Wertigkeit von Kulturen – eine Einschätzung, die sich letzendlich auch gegenüber deren Anhängern dieser Kulturen widerspiegelt. Problematisch ist außerdem, dass diese Leitkultur, dieser Wertekonsens, über das Grundgesetz hinaus zum Maßstab des Zusammenlebens in der Gesellschaft erhoben werden soll.
Der freiheitlich-demokratische Rechts- und Verfassungsstaat sieht den Pluralismus als verfassungsimmanentem Wert an. Würde er neben der Rechts- und Werteordnung des Grundgesetzes auch noch bestimmte kulturelle Werte oder Lebensweisen für verbindlich erklären, könnte er diesem Anspruch nicht gerecht werden.
Dabei erhebt er keines der unterschiedlichen Vorstellungen zum Maßstab. Das Grundgesetz gibt kein bestimmtes Menschenbild vor. Es gibt allen eine möglichst große Entscheidungsfreiheit in ihren Religions- und Weltanschauungen und ihrer Lebensführung.
Der Staat ist nämlich „Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich- religiöse Neutralität“, wie es das Bundesverfassungsgericht schon 1965 ausgeführt hat (BVerfGE 19, 206, 216).
Die Forderungen eines vermeintlichen Wertekonsens oder einer Leitkultur gehen aber weiter, als nur die Grundwerte des Zusammenlebens zu regeln. Vielmehr wollen sie sogar im Bereich der individuellen und kollektiven Glaubensgewissheiten, im Bereich der Lebensführung, den Ess- und Kleidungsgewohnheiten und der Art der öffentlichen religiösen Praxis Normen vorgeben und bestimmen. Menschen, die der Vorstellung von einer Leitkultur oder eines Wertekonsenses ausgehen, kann es dann nicht mehr egal sein, wenn Menschen religiösen Kleidungsgeboten folgen. So erscheint manschen schon das Befolgen jeglicher religiöser Gebote einer als fremd empfundenen Religion als suspekt. Die Wahrnehmung individueller, aber auch kollektiver religiöser Rechte, wird schon als Abweichung, und damit als potentielle Bedrohung angesehen.
Dabei gehört die Stärkung der Rechte des Individuums zu den Hauptaufgaben des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats. Es gehört zu seinem Daseinszweck, dem Einzelnen die Möglichkeit zu geben. selbst zu bestimmen, wie er sein Leben gestaltet, ob und wo er sich in seiner kulturellen oder religiösen Gemeinschaft positioniert. Dem Einzelnen muss es überlassen sein, wie weit er sich Traditionen verpflichtet fühlt und welche Rechte und Ansprüche er für sich daraus ableitet. Solch ein pluralistischer Staat gewährt dem Einzelnen nicht nur die Abgrenzung gegen die „eigene Kulturwelt“. Sie bewahrt ihn aber auch vor dem Zwang, sich von einer anderen kulturellen Gepflogenheit vereinnahmen zu lassen.
Dieses Recht auf Individualität wird aber von der Vorstellung eines tatsächlichen Wertekonsenses, einer Leitkultur in Frage gestellt. Diese Vorstellung knüpft die Anerkennung der Integration und die Gewährung von Bürgerrechten an die Bedingung, sich einer bestimmten „Wertorientierung“ anzuschließen.