Stimmt das Deutschlandbild von der „weitverbreiteten“ Ausländerfeindlichkeit und (dadurch?) nicht gelungenen Integration? (Teil 4/4)

19. August 2008 | Von | Kategorie: Gastbeiträge, Gesellschaft, Leitartikel | Keine Kommentare |

Das medial aufgemotzte Gespenst von „Parallel-Gesellschaften“ trifft zweifelsfrei auf den erwähnten kleinen Kreis radikaler Aktivisten zu, denen das Handwerk zu legen ist. Ich habe allerdings weder türkische noch andere nichtdeutsche Familien mit ernsthaften Interessen an solchen Entwicklungen erlebt – genauso wenig wie es die deutsche Bevölkerung interessiert. „Politische Wirrköpfe“ wird es immer und in allen Nationalitäten geben.

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Es ist aber irrational, andere Nationalitäten und Religionen zum Symbol solcher Verirrungen zu machen, nur weil ich unsicher bin und mich mit irrationalen Ängsten quäle. Die deutsche „Ausländerfeindlichkeit“ war von ihrem Anfang an auch eine „Vergewisserung deutscher Identität angesichts ihrer vorgeblichen Bedrohung durch Überfremdung“.[37].

Ein DANKE als Ausdruck unserer vollen Anerkennung gegenüber den Anderen , besonders an die türkischen BürgerInnen. Sie –und nicht nur sie, auch etliche aus anderen Nationalitäten, haben immensen Anteil am „wiederaufgebauten heutigen Deutschland“. „Anerkennung ist nicht bloß ein Ausdruck von Höflichkeit, den wir den Menschen schuldig sind … Das Verlangen nach Anerkennung ist vielmehr ein menschliches Grundbedürfnis…“ [38].

Ein seltenes Signal in gefragter Richtung entstammt einer einschlägigen Aktivität auf Regierungsebene Italien / BRD: „Deutschland verdanke den italienischen Zuwanderern ein Stück Wohlstand und Lebenskultur“. (Staatsministerin im Bundeskanzleramt, Maria Böhmer). Diese anderen BürgerInnen leisten heute wie zukünftig enorme und vielfältige Beiträge für Deutschland. Anerkennung aus positiver Grundstimmung führt zur deutlich fröhlicheren Stimmungspflege, nämlich „Tür an Tür“ [39]. DAS würde uns alle bereichern.

Die unhistorische -durch Bayerns CSU propagierte- Behauptung, „christliche Werteordnung stehe im Gegensatz zur Kultur der Türkei“, hat im gut informierten europäischen Haus keine Basis, was jener Teil deutscher Politiker trotz ihres Brüsseler Büros verkennt. „Ursprung der wichtigsten westlichen Werte (ist) im Mittelmeerraum des 9. – 15. Jh.“ zu suchen – „die GEMEINSAMEN Wurzeln werden ignoriert …“ [40].

„Wertezerfall“ tönt es aus Bayern? Da ist Erwin Huber, Vorsitzender der CSU, zuzustimmen – schließlich zerstoibe(r)n sich die (Prozent-)„Werte“ der CSU sozusagen nach unten …

Heute haben wir sekundenschnell Kontakte in andere Länder und Kulturen. Vor allem jüngere Generationen chatten bereits heute mit der ganzen Welt und demonstrieren die Anzahl weltweiter Kontakte als soziale Kompetenz. Sie befindet sich auf dem richtigen Weg, wenn die These von Helmut Schmidt stimmt, „gleichzeitig hängen die Menschen immer stärker voneinander ab“ [41] in ihrem alltäglichen Erleben. Wird aus „DER ANDERE“ dann doch „MEIN Anderer“ ? [42] „Die Anerkennung der Multikulturalität ist zweifellos ein Fortschritt…“ [43].

Äußerungen jener bayerischen ur-Orakler „das ist unser Land und wir möchten, dass das auch so bleibt“ (seit Jahren CSU-Spruch, erneut Anfang August 2008 im Fernsehen) füttern nicht nur die in der FES-Studie dokumentierten Vorurteile; sie haben vielmehr fast beleidigenden Charakter, würde man sie nicht als geistlose Politiker-Polemik vergessen [44].

Da möchte man Gabor Steingart fragen, ob er mit seiner eigentlich positiven Einschätzung „Bayern ist das China unter den Bundesländern“ [45] gewisse Kreise mit diesem Vergleich vielleicht in Bedrängnis bringen wollte.

Für die CSU-Kreise, die kontinuierlich wider besseres Wissen jene in der FES-Studie dokumentierten Klischees bedienen und nähren, gibt’s neue Götterspeise: So ist „abendländische Kultur nicht den Religionen, sondern Eisen, Kupfer, Silber … Wohlstand aus dem Berg …,[46],… dessen Nachschub auf friedlichem Wege besser funktionierte …“ [47] zu verdanken, etwa „aus dem seit fünftausend Jahren heiligen Hügel Sakdrisin in Georgien“ [48]. Und um noch eins draufzusetzen: das „Ole Ole“ im German-Fussballstadion-Chor wird arabischer Abstammung zugeschrieben …

Ebenso werden Vorurteile bedient, wenn die notwendige, konstruktive kulturelle Auseinandersetzung am Beispiel „Moscheenkonflikt derzeit gerne als Ausweis des Scheiterns multireligiöse(r) Gesellschaft herangezogen“ wird, „als Symbol der Blockade – rien ne va plus = nichts geht mehr“ [49]. In Deutschland leben derzeit rund 3,4 Millionen Muslime [5].

Kein, auch nicht „unser“ Land, wird im Zuge weiterer Globalisierung so bleiben wie es war! Vielmehr werden beachtliche Veränderungen mehr denn je unseren zukünftigen Alltag bestimmen, auch wenn wir berechtigte Hoffnungen haben, dass dabei nationale Grenzen nicht mehr angegriffen werden. Die sichtbar morscher werdenden kulturellen Schlag-Bäume werden zerfallen.

Die Globalisierung wird uns von vielleicht noch nicht zivilisierten archaischen Resten aus unserer Evolution und Jahrhunderte lang gültigen „nationalen Platzordnungen“, restlos befreien. Ob „Frustrations–Aggressions-Hypothese“ [50] oder „Verlustaversion“ [51] die Ausländerfeindlichkeit ursächlich erklären und deuten, wird durch die veränderte Weltordnung sekundär. „Wir kommen an der internationalen Organisation nicht vorbei- sie ist der einzige Rettungsanker“ [52].

Und wen wundert’s, in Sachen Globalisierung zeigen sich in der Bevölkerung vergleichbare Irrationalitäten, wenn der „Kampf gegen die Globalisierung“ als unverzichtbare eigene Überlebensstrategie empfunden wird.
„Gesellschaftlich kulturelle Fragmentierung und Mischung von Gesellschaften (sind) eine Tatsache“ [53].
Wir werden kulturelle Gemeinsamkeiten über mehrere nationale Grenzen hinweg als Alltag und hoffentlich auch mit Genuss erleben. „Multi-Kulti“ in unterschiedlichster Vielfalt wird zunehmend mehr Bedeutung erhalten als es jemals der Fall war.

Wenn fast alle vorgenannten Autoren, die Erziehung zur „Multikulturalität … (= Anerkennung der jeweiligen kulturellen Spezifika – bei gleichzeitigem Konsens über Grundwerte) stärker als bislang zum Bildungsziel … erklären“ [54], zeigen sie – möglicherweise ungeahnt- sehr viel Bewusstsein für unsere Zukunft.
Anmerkung: Die Idee von „multikulti“ wird oft verkürzt, negiert oder als idealistische linke Strömung verzerrt; es war viel weniger eine „Definition“ [55] als vor allem ein erlebtes aber ungeschriebenes „Programm“, eine Lebensauffassung, dass alltagsvolles Leben kunterbunt Miteinander erlebt wird, zu deren Konvention auch Spaß und Freude gehörten, Berührungsängste auflösend und zugleich verlässliche soziale Beziehungen für Beteiligte mit Stabilität verband; die vielen kulturellen Unterschiede alltags-bereichernd bewusst zu erleben und zu nutzen, anstatt mit Statussymbolen zu kokettieren und den Anderen die Anerkennung zu versagen. Übrigens lange bevor „Die Grünen“ den Begriff in ihre Programmatik aufnahmen! Bei allem Respekt vor der unerfreulichen Erfahrung, die Seyran Ates, Rechtsanwältin, zu erleiden hatte, kann ich in ihrer Darstellung, dass eben diese multi-kulti-Idee „so wie sie bisher gelebt wurde … organisierte Verantwortungslosigkeit“ [56] sei, sowohl pauschal als auch ihren teils sehr fragwürdigen Bewertungen nur vehement widersprechen. [57]. Würde Sie Recht haben, erinnert das an Th. W. Adornos Minima Moralia, mit einem seiner Kernsätze „es gibt kein richtiges Leben im falschen“.

Multi-Kulti, wofür sich S. Ates zum Schluss unter anderen Vorstellungen doch ausspricht, wird sich als Realität in unseren Gesellschaften weder in Deutschland oder gar nur in Bayern, sondern auf der Bühne der großen Völker entscheiden.

Die Teilnahme an der multikulturellen Welt erfordert ein starkes und reifes Gefühl der Identität …“ [58]. „Der nationalstaatliche Rahmen ist für die Bewältigung der weltweiten Risiken überhaupt zu eng geworden“ [59].
Und wir wären gut beraten, mit Wortklauberei und Gezeter über Integration und Migration „nicht den Krug zu zerschlagen, weil er einen Sprung hat“ [60].

Das neue Europa wird sich anzustrengen haben, als eng verbundene Gemeinschaft mit anderen großen Kulturen Schritt zu halten. Diese Botschaft war dieser Tage auch vom US-Senator Obama zu hören – unabhängig davon, wer ihn mag oder nicht, ob er nun Präsident wird oder nicht – hat er mit der Behauptung, dass Europa und USA aufeinander sehr angewiesen sein werden, Weitsicht gezeigt – sie ist durch Interpretation nicht auf Terrorismusbekämpfung zu reduzieren.

Es werden nicht Fragen nach Religion und Baugrößen von Moscheen oder Kirchen sein, ob wir Europäer uns in der voranschreitenden globalen Evolution behaupten. 10 bis 50 Millionen chinesische Ingenieure (z.Zt. jährlich ca. 8 Mio. im noch wenig optimierten Studium) und mindestens 200 Mio. chinesische Wissenschaftler insgesamt (z.Zt. jährlich ca. 24 Mio. im noch nachbesserungsbedürftigen Studium), werden uns morgen andere Fragen stellen. Und kulturell wird’s in Europa auch weniger religiös entschieden, wenn wir hören, dass sich schon heute z.B. über 2 Mio. chinesische Pianisten ausbilden, obwohl das der kleinste Anteil im Geschehen der Kulturen sein wird. Auch aus südamerikanischen Ländern sind andere kulturelle Signale zu hören, Russland, Indien etc. – sie werden den neuen Kammer-Ton im Weltchor temperieren.
Da bleibt nur zu hoffen, dass wir lauthalsend im Migrations-Gezeter unsere europäischen Stimmen nicht mit Heiserkeit verstimmt krächzen, sondern mit gemeinsamer, gut temperierter Tonlage hörbar bleiben – mit einer eigenen Kultur des Verstehens.

Jedenfalls ist die Welt auf die WIR zusteuern, eine Erde der großen Chancen“ [61]. „Erst wenn Millionen von Menschen die Arme vor der Brust lösen und ihre Gemütshaltung von ängstlich auf neugierig umschalten, wird Deutschland sich verändern“ [62]. „Die Regel des gegenseitigen Mitgefühls und Verständnis als einzigste akzeptable Regel“ [63]. – das wäre eine schöne neue Welt.

Aber alles, was wir erforschen, sagen, denken und schreiben, unterliegt jenen anfangs erwähnten Vorbehalten, denn „die auf das eigene kulturelle Vorurteil selbstkritisch Reflektierenden, denken immer noch innerhalb ihres eigenen partikularisierenden kulturellen Rasters nach“ [64].
Deshalb verbietet es sich, „das einer der existierenden Partikularismen aus sich selbst heraus für alle übrigen definieren kann, was universell gelten soll“ [65].

Hans Werth – Juli 2008

Literatur nachweis (Quellen der Zitate)

[37] Lutz / Even Herbert, Soziologie der Ausländerfeindlichkeit, Zwischen nationaler Identität und multikultureller Gesellschaft, Beltz, Weinheim/Basel 1984]
[38] Taylor Ch., Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung; Verlag Suhrkamp, Frankfurt/M., 1993, S. 13/14; ]
[39] Aschaffenburger Gesprächen Zitat aus, 2008]
[40] Trojanow I. & Hoskotó Rantje, KampfABsage – Kulturen bekämpfen sich nicht – sie fließen zusammen, Blessing Verlag, München, 2007, S. 12]
[41] Schmidt Helmut, a.a.O., S. 243]
[42] Kapuscinski R., a.a.O., S. 93]
[43] Kapuscinski Ryszard, Der Andere, edition suhrkamp, Frankfurt/M., 04/2008, S. 46]
[44] Hoffmann Lutz, Ausländer raus? Ein deutsches Dilemma, in H. Bausinger (Hrsg.), Ausländer-Inländer, Arbeitsmigration und kulturelle Identität, Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Band 67, Tübingen 1986, S. 9 ff]
[45] Steingart G. (Spiegel New York), Weltkrieg um Wohlstand – Wie Macht und Reichtum neu verteilt werden, Piper Verlag, München, Nov.2007, S. 391]
[46] Follath E., a.a.O., S. 141]
[47] Follath E., a.a.O., S. 145]
[48] Follath E. & A. Jung (Spiegel-Reporter), Der neue Kalte Krieg Kampf um die Rohstoffe, Spiegel-Goldmann Verlagsgruppe RandomHouse, Febr. 2008; (Spiegel dtv, München, 2006), S. 145]
[49] Sommerfeld Franz, Der Moscheenstreit – eine exemplarische Debatte, Verlag KiWi Paperback, Köln, 2008, S. 231]
[50] Wolfrum E., a.a.O., S. 427]
[51] Beinhocker E. D., Die Entstehung des Wohlstandes, mi-Redline GmbH, München, 2006/2007, S. 377]
[52] Müller Harald, a.a.O., S. 164]
[53] Müller Harald, a.a.O., S. 97]
[54] Wagner U. / Dick R. v., Uni Marburg, a.a.O.]
[55] Pohl Bastian, Die deutsche Debatte um die multikulturelle Gesellschaft in „Inszenierte Konflikte –Inszenierter Konsens“ (R. Hartz, T. Karasek, C. Knobloch), Edition DISS Bd. 16, 1. Auflage, UNRAST-Verlag, Münster, 2007, S. 101]
[56] Ates Seyran, a.a.O., S. 9]
[57] Ates Seyran, Der Multikulti-Irrtum, Ullstein Verlag, erlin, 2007, S. 9]
[58] Kapuscinski R., a.a.O., S. 46]
[59] Habermas Jürgen, Philosoph und Soziologe, Ein politisch zivilisiertes Land, Focus Interview mit Stephan Sattler, Focus 35/1995, S. 124]
[60] Lepenies Wolfgang, Spruch nach L. verwendet; SZ-Interview „Aphorismen nach Auschwitz“ zu Th. W. Adornos Minima Moralia, SZ München, Nr. 82 7./8.04.2001, S. I.]
[61] Kapuscinski R., a.a.O., S. 92]
[62] Steingart G., a.a.O., S. 398]
[63] Trojanow I., Hoskotó Rantje, a.a.O., S. 228]
[64] Müller Harald, a.a.O., S. 110
[65] Müller Harald, a.a.O., S. 110]
[66] Large David Clay, Hitlers München (whare ghsts walked Munichs Roads to the Third Reich, Norton, NY 1997), Verlag C.H. Beck, 1998; S. 250]
[67] Large David Clay,a.a.O., S. 10]

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