BVerfG: Die Allgemeinheit hat ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten „Parallelgesellschaften“ entgegenzuwirken und Minderheiten auf diesem Gebiet zu integrieren

9. August 2007 | Von | Kategorie: Recht | Keine Kommentare |

Das Verwaltungsgericht Stuttgart hat mit Urteil vom 26.07.2007 die Klage einer Familie bibeltreuer Christen auf Befreiung ihres Kindes von der allgemeinen gesetzlichen Schulpflicht abgewiesen (Az.: 10 K 146/05). Das Verwaltungsgericht Stuttgart führt in Anlehnung an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (1 BvR 436/03, 2 BvR 1693/04, 1 BvR 2780/06) unter anderem an, dass die Allgemeinheit ein berechtigtes Interesse daran habe, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten „Parallelgesellschaften“ entgegenzuwirken und Minderheiten auf diesem Gebiet zu integrieren.

Die Pressemitteilung des VG Stuttgart:

Die klagenden Eltern stellten 2004 den Antrag, ihre am 02.08.1995 geborene Tochter von der Schulpflicht zu befreien; zugleich sollte der bisher erfolgte Hausunterricht für die Tochter gestattet werden. Die Eltern beriefen sich auf ihre Grundrechte auf Glaubensfreiheit und auf religiöse Erziehung der Kinder. Diese religiöse Erziehung sei in öffentlichen Schulen nicht gewährleistet. In der öffentlichen Schule werde lediglich die Liebe zu den Menschen – nicht zu Gott -, statt Unterordnung unter die Obrigkeit unter dem Etikett des mündigen Bürgers die ständige Rebellion und das unablässige Hinterfragen von Autorität gelehrt. Statt Schamhaftigkeit erfolge Sexualerziehung schon ab der 2. Klasse, statt Keuschheit erfolge eine verfrühte sexuelle Aufklärung und werde das Recht eines jeden Jugendlichen auf sexuelle Betätigung vermittelt. Statt vor Zauberei zu warnen, würden Hexengeschichten empfohlen und esoterische Praktiken wie Mandala-Malen geübt. Statt der biblischen Schöpfungsgeschichte werde die Evolutionstheorie, nicht als Theorie sondern als wissenschaftlich bewiesen, gelehrt. Die Schulaufsichtsbehörden lehnten den Antrag unter Hinweis auf den ebenfalls im Grundgesetz festgelegten Lehr- und Erziehungsauftrag des Staates ab.

Das Verwaltungsgericht entschied, die Ablehnung des staatlichen Schulsystems aus religiösen Motiven stelle keinen besonderen Fall dar, wie ihn das Schulgesetz für eine ausnahmsweise Befreiung von der allgemeinen Grundschulpflicht voraussetze. Der Lehr- und Erziehungsauftrag der allgemeinen staatlichen Schulen aus Artikel 7 Absatz 1 des Grundgesetzes stehe gleichrangig, aber doch mit beschränkender Auswirkung neben den grundgesetzlich garantierten Rechten der Kläger auf Glaubensfreiheit und auf elterliche Pflege und Erziehung. Der Lehr- und Erziehungsauftrag umfasse nicht nur die Wissensvermittlung, sondern auch die Erziehung der Kinder zu selbstverantwortlichen Mitgliedern der Gesellschaft. Das Grundgesetz gehe insoweit einer unterschiedslos von allen Kindern besuchten Grundschule aus, was in besonderem Maße erste gesellschaftliche Erfahrungen zulasse und den Erwerb sozialer Kompetenzen fördere. Die mit der Pflicht zum Besuch der staatlichen Grundschule verbundenen Eingriffe in die genannten Grundrechte der Kläger seien auch verhältnismäßig. Denn die Allgemeinheit habe ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten „Parallelgesellschaften“ entgegenzuwirken und Minderheiten auf diesem Gebiet zu integrieren. Die mit dem Besuch der Schule verbundene Konfrontation mit den Auffassungen und Wertvorstellungen einer zunehmend säkular geprägten pluralistischen Gesellschaft sei den Klägern trotz des Widerspruchs zu ihren eigenen religiösen Ãœberzeugungen zuzumuten.

Ich bin mir nicht sicher aber stelle mir dennoch die Frage, was sich die Verfassungsrichter dabei gedacht haben (darauf geht die Formulierung des VG Stuttgart zurück), als sie meinten, dass die Allgemeinheit ein berechtigtes Interesse daran habe, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten „Parallelgesellschaften“ entgegenzuwirken und Minderheiten auf diesem Gebiet zu integrieren. Die im Ergebnis überzeugende Entscheidung des VG Stuttgart hat in der Begründung einen Nachgeschmack, der schwer einzuordnen ist.

Wie viele Menschen in Deutschland sind christlich, evangelisch, muslimisch, jüdisch, buddhistisch oder überhaupt religiös? Ist es überhaupt möglich von einem berechtigten Interesse der Allgemeinheit in Bezug auf die Religion zu sprechen und wenn ja: Wer ist die Allgemeinheit und ab zahlenmäßig welcher Größe gehört man zur Allgemeinheit und wann zur Parallelgesellschaft? Führen katholische Mädcheninternate ebenfalls dazu, dass religiös oder weltanschaulich motivierte Parallelgesellschaften entstehen?

Was unter Glauben zu verstehen ist, kann weder juristisch allgemein noch staatsrechtlich erfasst werden. Das Recht der Glaubensfreiheit gewährleistet dem Einzelnen eine Lebensform, die seiner Überzeugung entspricht und nicht die der Allgemeinheit.

Nicht vergessen werden darf, dass der Begriff „Parallelgesellschaft“ unter Soziologen heftig umstritten ist auch in Bezug auf die klassischen Einwandererviertel. Eine religiöse Parallelgesellschaft, die man weder riechen noch sehen kann, die lediglich in den Köpfen existiert, dürfte demnach überhaupt nicht geeignet sein, um eine Klassifizierung vorzunehmen.

Insofern darf die Allgemeinheit überhaupt kein Interesse daran haben, irgendwelchen Parallelgesellschaften, entgegenzuwirken. Weiter noch: Die Allgemeinheit darf die Religion des Einzelnen nichts angehen.

Genauso wenig darf die Allgemeinheit überhaupt irgendein Interesse – geschweige denn ein berechtigtes – daran haben Minderheiten auf diesem Gebiet zu integrieren. Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich. Das steht im Art. 3 des Grundgesetzes nicht ohne Grund und Hintergedanken.

Das Bundesverfassungsgericht spricht demgegenüber von einem „berechtigten“ Interesse. Die Allgemeinheit darf allenfalls ein berechtigtes Interesse daran haben, dass jeder lesen, schreiben, rechnen kann und rechtstreu erzogen wird, kurz: Zur Schule geht. Insofern hätte die anschließende Begründung des Gerichts vollkommen ausgereicht:

In diesem Zusammenhang sei auch zu berücksichtigen, dass die Erfüllung des staatlichen Erziehungsauftrags auch dem geschützten Interesse des Kindes diene. Die Tochter der Kläger sei zur Zeit ihrer Grundschulpflichtigkeit noch nicht in der Lage gewesen, die Konsequenzen der Entscheidung ihrer Eltern abzuschätzen. Wenn die Eltern geltend machten, ihr Erziehungskonzept, in dem Gehorsam und die Achtung göttlicher, elterlicher und staatlicher Autorität von zentraler Bedeutung seien, kollidiere mit dem staatlichen Unterricht an öffentlichen Schulen, der die Souveränität und Selbstverantwortlichkeit des Kindes und ein Hinterfragen von Autorität in den Mittelpunkt stelle, spreche dies eher für die Schulbesuchspflicht ihrer Tochter.

Die Tochter erfülle ihre gesetzliche Pflicht zum Besuch einer weiterführenden Schule auch nicht dadurch, dass sie seit Anfang 2005 eine – nicht genehmigte – „Christliche Grund- und Hauptschule“ besuche. Denn dort sei nicht für ihre Erziehung und Unterrichtung ausreichend gesorgt, wie das Schulgesetz für eine ausnahmsweise Befreiung von der Pflicht zum Besuch einer weiterführenden Schule voraussetze. Dabei komme es nicht auf den Kenntnis-, oder Leistungsstand des Kindes, sondern allein darauf an, ob in der Erziehung und Unterrichtung durch die Lehrenden selbst ein gewisses Niveau erreicht sei. Es sei in keiner Weise nachvollziehbar dargelegt, dass die Lehrenden der nicht anerkannten „Christlichen Grund- und Hauptschule“, die fachlichen Fähigkeiten, die von Lehrern an weiterführenden Schulen zu erwarten seien, erfüllten oder ihre Befähigung mit diesen Fähigkeiten auch nur annähernd vergleichbar wäre. Dieses Niveau könne nicht gewahrt sein, wenn Mathematik und Naturwissenschaften von einer Medizinisch-Technischen Laborassistentin, Erdkunde, Wirtschaftskunde, Gemeinschaftskunde und Geschichte von einer Behördenassistentin für Umweltschutz und Landschaftspflege unterrichtet würden und wenn die Qualifikation für Englischunterricht sich in der Erlangung des Abiturs – mit einer mittleren Bewertung des Faches Englisch zwischen 8 und 10 Punkten – erschöpfe. Es müsse zumindest eine klar auf das jeweilige Unterrichtsfach bezogene weiterführende Ausbildung gefordert werden. Ohne eine solche Ausbildung sei ein reflektierter Umgang mit dem zu vermittelnden Stoff als Mindestvoraussetzung für Wissensvermittlung – jedenfalls auf dem Niveau einer weiterführenden Schule – nicht möglich.

Gegen das Urteil steht den Beteiligten die Berufung zu, wenn sie vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg zugelassen wird. Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils zu stellen. (Quelle: Pressemitteilung Verwaltungsgericht Stuttgart)

Ekrem Senol – Köln, 09.08.2007

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