Selbstkritik: Um das Kopftuch geht es längst nicht mehr
8. November 2006 | Von E. S. | Kategorie: Leitartikel | 2 Kommentare |… Wir müssen einräumen, dass es Zwangsverheiratung, Entmündigung, Benachteiligung gibt. Auch wir beobachten die Frauen, die im Abstand von fünf Metern ihren Männern folgen, manchmal dabei auch noch die schwere Einkaufstüte tragend, während der Mann außer einem Rosenkranz oder einer Zigarette nichts trägt. …
Es stimmt, dass wir sagen, dass diese Verhältnisse uns Muslime zutiefst schmerzen, dass wir sie ablehnen, gerade weil wir Muslime sind. Und es stimmt, dass wir uns in einem ungleichen Kampf gegen die Macht der Medien und Vorurteile dagegen wehren, dass der Islam, den wir so lieben und verehren, oft gegen besseres Wissen mit diesen Zuständen gleichgesetzt wird. Es stimmt, dass die Berichterstattung oft sensationsfixiert übertreibt, aus Einzelfällen algemeingültige Bilder produziert, die Dinge einseitig darstellt und verzerrt. Aber der Islam ist zu anspruchsvoll, als dass wir alles damit abtun könnten. Wir machen es uns zu einfach, viel zu einfach, wenn wir behaupten, das eigentliche Problem bestehe in den Medien, nicht in unserer Wirklichkeit. Und doch neigen wir sehr oft genau hierzu.
Wir müssen uns vor allem vorhalten lassen, dass wir in diesem Zusammenhang meist reaktiv sind: Wir warten darauf, dass andere die Missstände aufdecken und in die Medien bringen und rufen dann erst laut, dies sei aber doch nicht der Islam und man solle doch bitte nicht pauschalisieren, vereinfachen, übertreiben. …
Zum Beispiel die Zwangsverheiratung türkischer Mädchen mit Männern, die sie nicht kennen und nicht wollen. Wir, ich meine damit die praktizierenden Muslime und seine Apologeten, die Moscheen, Prediger und islamischen Organisationen, wir waren es nicht, die das Problem aufgegriffen hätten, zum Beispiel in Freitagspredigten, wo wir es wahrscheinlich effektiver als Andere hätten bekämpfen können. Wir haben darauf gewartet, dass darüber von anderen Romane und Studien verfasst und Reportagen ausgestrahlt wurden. Erst dann riefen wir, der Islam kenne die Zwangsheirat nicht. Zu spät. Pfiffigere Leute waren da längst sogar mit erlogenen Autobiografien zu Helden im Kampf gegen den „archaischen Islam“ geworden.
Schließlich noch das Beispiel des Siebenmeterabstands: Wir haben zu diesem Thema keine Satiren verfasst, keine Theatersketche aufgeführt und keine statistischen Erhebungen gemacht. Wir warten darauf, dass das Thema im Kabarett des deutschen Fernsehens aufgegriffen wird, vielleicht so unsensibel, dass es uns verletzt und wir auch dazu aufgeregt Stellung beziehen und sogar demonstrieren. Diese Beispiele haben zwar nicht alle etwas mit dem Kopftuch zu tun, sind aber das, was andere in die Welt des Kopftuchs projizieren und was wir uns anrechnen lassen müssen, weil wir es so gern verdrängen. …
Damit kein falsches Bild entsteht: Es ist noch nichts gesagt worden über den Zusammenhang zwischen dem Phänomen des Kopftuchs und den Missständen in muslimischen Familien. Es ist mir auch keine statistische Erhebung bekannt, die untersucht hätte, ob eine Korrelation besteht zwischen bewusster Religiosität, meinetwegen festgemacht am Merkmal „kopftuchtragende Ehefrau“ und zum Beispiel Gewalt in der Ehe. Ich bin überzeugt, es gibt sie – und sie ist negativ: Je bewusster die Eheleute ihren Glauben leben, desto weniger Gewalt herrscht in den Familien, desto mehr beteiligen sich die Männer an der Bewältigung des Haushalts und an der Kindererziehung. Ich bin mir dessen sicher, weil für mich ein bewusstes Leben im Islam bedeutet, dass man sich am Beispiel des Propheten des Islam orientiert, und der hat ja in einer ganz berühmten Überlieferung gesagt: „Die besten unter euch sind die besten zu ihren Frauen.“ Oder „Nur ein Edler ist ihnen gegenüber edel, und nur ein Niederträchtiger wird sie demütigen.“ Und er hat seine Kleider gern selbst geflickt und war zuhause nach Aussage einer seiner Ehefrauen „im Dienst seiner Familie“. Und ich weiß, dass es diese Zitate sind, die in den Moscheen zu diesem Thema zu hören sind und nicht der berühmte Koranvers, der dem Mann nach landläufiger Meinung die Züchtigung seiner Frau erlaubt.
Als Muslime und als Mitbürger in dieser Gesellschaft, als Teilhaber an unserer einen Welt sollten wir jedoch nicht nur unsere eigenen Probleme zu lösen in der Lage sein, wir sollten auch den Anspruch haben, eine Bereicherung der Menschengemeinde zu sein. Und das umso mehr, als wir doch so überzeugt sind von dem islamischen Lebensentwurf. Es ist ja nicht von ungefähr, dass wir nach dem Islam leben wollen, obwohl wir seit unserer frühen Sozialisierungsphase der Propaganda gegen ihn mehr ausgesetzt sind als der Predigt für ihn, dass wir uns nach den Regeln des Islam kleiden, obwohl das nicht nur selten „in“ ist, sondern damit ja auch mannigfache Nachteile in Schule, Ausbildung, Studium und Beruf verbunden sind.
Bereichern aber womit? Was hat es mit der Kleidung auf sich, wie sie der Islam empfiehlt? Allgemein dürfte gelten, dass wir unsere Kinder anziehen, weil wir sie beschützen wollen, etwa vor Kälte. Später ziehen wir uns auch an, um schön zu sein. Wir bekleiden uns. „Ihr Kinder Adams, Wir haben auf euch Kleidung hinabgeschickt, die eure Blöße bedeckt, und auch Federn. Und die Kleidung der Frömmigkeit, die ist besser.“ Zum Schönsein gehört die Bedeckung der Blöße, nicht jedoch zur erotischen Anzüglichkeit. Schönsein ist nicht sexy sein. Diese Verwechslung ist im Islam nicht möglich. Weder beim Mann noch bei der Frau.
Konkret zur Kleidung der Frau finden sich im Koran zwei Stellen, von denen eine hier zitiert werden soll: „O Prophet, sag deinen Gattinnen und deinen Töchtern und den Frauen der Gläubigen, sie sollen etwas von ihrem Ãœberwurf über sich herunterziehen. Das bewirkt eher dass sie erkannt werden und dass sie nicht belästigt werden.“ Die ratio legis wird hier nicht mit Unterordnung oder Fügsamkeit angegeben, sondern damit, dass die Frau erkannt werde. Ist sie denn nicht gerade erkennbarer, je weniger sie gekleidet ist? Vielleicht sieht man mehr von ihrem Körper, aber man erkennt sie deswegen nicht eher. Einer Frau, die sich nach islamischer Weise kleidet, schaut man wohl eher ins Gesicht als einer, die einem mit tiefem Ausschnitt, enger Bluse und bauchfrei gegenübertritt. Das Gesicht ist das Antlitz des Mannes und der Frau, es ist darüber hinaus in erster Linie schön, während der Körper in erster Linie erotisch sein will. Voraussetzung für das Gesagte ist natürlich, dass das Gesicht der Frau überhaupt sichtbar ist, was als theologische Auffassung seit mindestens 1300 Jahren leider nur von 99% der Muslime geteilt wird. …
Hat uns etwa Europa erst gezwungen, die Offenbarung zu lesen? In gewisser Weise schon: Wir haben einige Jahrhunderte lang ein ziemlich unbewegtes, unlebendiges Dasein gefristet. Nun ist der Koran nach eigener Formulierung aber gekommen, um die „zu warnen, die lebendig sind“. Um den Koran zu verstehen, muss man also erst aufwachen. Europa ist mit seiner Waffengewalt und mit seinem Geist gekommen und hat uns aufgerüttelt. Es hat in uns also erst die Voraussetzung geschaffen, die Botschaft des Koran zu empfangen. Seither erst setzen wir uns mit dem Koran und mit dem Beispiel des Propheten wieder aktiv auseinander, statt sie nur passiv zu tradieren und zu katalogisieren.
Allerdings haben wir uns geistig seither mehr oder weniger analog zu unserer politischen Haltung verhalten: wir haben uns verteidigt. Wir haben Antworten gesucht auf Fragen, die uns gestellt wurden, waren passiv und reaktiv, statt aus uns heraus eigene Fragen zu stellen, sie so zu formulieren, dass sie von echter Relevanz wären. Deshalb sind so viele Schriften, die von uns zur „Frau im Islam“ verfasst wurden, theoretische und apologetische Schriften gewesen und waren weit davon entfernt, Antworten auf unsere eigenen Probleme in diesem Zusammenhang zu sein. Das wäre auch nicht möglich gewesen, denn unsere eigenen Probleme haben unsere Gelehrten nicht erkannt und die entsprechenden Fragen auch nicht gestellt. …
Quelle: Islam.de
Ekrem Senol – Köln, 08.11.2006
Ihr Blog finde ich sehr Interessant.
Sehr interessanter Artikel – das Thema „Frau“ – und was man von ihr sehen sollte, ist auch in der „islamischen Welt“ heiß diskutiert. Doch die Ansichten sind hier -wie von ihnen bereits aufgegriffen keinesfalls homogen. Beispiel Schleier: Ich persönlich trage ihn nicht (sondern „nur“ Kopftuch) – aber ich kenne einige, zum Teil auch recht anerkannte Webseiten (islamqa.com), welche das „nicht bedecken“ des weiblichen Gesichts sofort als „haram“ abtun und die betreffende Frau als Sünderin bezeichnen… Mhhh… ich hab zu dem Thema meine eigene Meinung – aber es ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir anderen Leuten nur schwer Dinge erklären können, über die wir uns offensichtlich selbst nicht einig sind.
Ach ja, du erwähntest, dass „leider nur 99% der Muslime“ es als korrekt ansehen, dass die Frau ihr Gesicht nicht bedecken muss – laut islamqa.com müsste die Zahl genau andersherum sein – denn dort wird behaupted, das die „korrekteste“ Meinung ist, dass die Frau ihr Gesicht bedecken MUSS – öhm joah …