Rasterfahndung nach 11. September war verfassungswidrig
23. Mai 2006 | Von E. S. | Kategorie: Leitartikel | Keine Kommentare |Der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts hat der nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 eingeleiteten Rasterfahndung nach islamistischen Terroristen Grenzen gesetzt. Eine präventive polizeiliche Rasterfahndung ist mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung nur vereinbar, wenn zumindest eine konkrete Gefahr für hochrangige Rechtsgüter wie den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person gegeben ist. Als bloße Vorfeldmaßnahme entspricht eine solche Rasterfahndung verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht.
Daher reichen eine allgemeine Bedrohungslage, wie sie in Hinblick auf terroristische Anschläge seit dem 11. September 2001 durchgehend bestanden hat, oder außenpolitische Spannungslagen für die Anordnung der Rasterfahndung nicht aus. Vorausgesetzt ist vielmehr das Vorliegen weiterer Tatsachen, aus denen sich eine konkrete Gefahr, etwa für die Vorbereitung oder Durchführung terroristischer Anschläge, ergibt.
Hintergrund und Sachverhalt:
1. Die Rasterfahndung ist eine besondere polizeiliche Fahndungsmethode unter Nutzung der elektronischen Datenverarbeitung. Die Polizeibehörde lässt sich von anderen öffentlichen oder privaten Stellen personenbezogene Daten übermitteln, um einen automatisierten Abgleich mit anderen Daten vorzunehmen. Durch den Abgleich soll diejenige Schnittmenge von Personen ermittelt werden, auf welche bestimmte, vorab festgelegte und für die weiteren Ermittlungen als bedeutsam angesehene Merkmale zutreffen. Die Rasterfahndung spielte vor allem bei der Bekämpfung des RAF-Terrorismus in den 1970er Jahren in Deutschland eine Rolle. Nach den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 führten die Landespolizeibehörden unter Mitwirkung des Bundeskriminalamtes eine bundesweit koordinierte Rasterfahndung nach islamistischen Terroristen durch. Ziel war insbesondere die Erfassung so genannter „Schläfer“. Die Landesämter erhoben Daten unter anderem bei Universitäten, Einwohnermeldeämtern und dem Ausländerzentralregister und rasterten die Datenbestände nach den folgenden Kriterien: männlich, Alter 18 bis 40 Jahre, (ehemaliger) Student, islamische Religionszugehörigkeit, Geburtsland. Die gewonnenen Daten wurden anschließend mit weiteren, durch das Bundeskriminalamt erhobenen Datenbeständen abgeglichen. Die Rasterfahndung führte nicht dazu, dass „Schläfer“ aufgedeckt wurden.
An der Rasterfahndung beteiligte sich auch das Land Nordrhein- Westfalen. Im Oktober 2001 ordnete das Amtsgericht Düsseldorf auf Antrag des Polizeipräsidiums die Rasterfahndung an. Die Anordnung stützte sich auf § 31 des Polizeigesetzes des Landes Nordrhein- Westfalen in der Fassung vom 24. Februar 1990 (PolG NW 1990). Nach Absatz 1 dieser Vorschrift kann die Polizei von öffentlichen Stellen oder Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs die Übermittlung von personenbezogenen Daten bestimmter Personengruppen aus Dateien zum Zwecke des automatisierten Abgleichs mit anderen Datenbeständen verlangen, soweit dies zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr für den Bestand oder die Sicherheit des Bundes oder eines Landes oder für Leib, Leben oder Freiheit einer Person erforderlich ist.
Die gesetzlichen Voraussetzungen, unter denen eine präventive polizeiliche Rasterfahndung angeordnet werden kann, sind in den Bundesländern unterschiedlich geregelt und in den letzten Jahren in vielen Ländern gemildert worden. Nach mehreren Landesgesetzen ist die Rasterfahndung seither auch ohne das Vorliegen einer konkreten Gefahr zulässig; die Ermächtigung zur Rasterfahndung ist also zu einer polizeilichen „Vorfeldbefugnis“ umgestaltet worden. Danach kann die Maßnahme etwa bereits dann durchgeführt werden, wenn tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass dies zur Verhütung bestimmter Straftaten von erheblicher Bedeutung erforderlich ist.*
2. Der 1978 geborene Beschwerdeführer ist marokkanischer Staatsangehöriger islamischen Glaubens. Im Zeitpunkt der Anordnung der Rasterfahndung war er Student. Seine gegen den amtsgerichtlichen Beschluss eingelegten Rechtsmittel waren vor dem Landgericht und dem Oberlandesgericht erfolglos. Auf seine Verfassungsbeschwerde hin hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts festgestellt, dass die angegriffenen Beschlüsse den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verletzen. Das Verfahren ist an das Landgericht zu erneuter Entscheidung zurückverwiesen worden.
Der Entscheidung liegen im Wesentlichen folgende Erwägungen zu Grunde:
1. Die angegriffenen Entscheidungen sind auf eine verfassungsgemäße Eingriffsgrundlage gestützt. § 31 Abs. 1 PolG NW 1990, der das Grundrecht der informationellen Selbstbestimmung beschränkt, genügt verfassungsrechtlichen Anforderungen allerdings nur bei einer Interpretation, die am Erfordernis einer auf Tatsachen gegründeten, konkreten Gefahr festhält.
a) Die in § 31 PolG NW 1990 geregelte Rasterfahndung dient dem Schutz hochrangiger Verfassungsgüter. Mit dem Bestand und der Sicherheit des Bundes und eines Landes sowie Leib, Leben und Freiheit einer Person, die vor Gefahren geschützt werden sollen, sind Schutzgüter von hohem verfassungsrechtlichem Gewicht bezeichnet.
b) Zum Schutz dieser Rechtsgüter ermächtigt § 31 PolG NW 1990 zu Eingriffen in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung von erheblichem Gewicht.
Ein erhebliches Gewicht des Eingriffs ergibt sich bereits aus der Reichweite der Befugnis sowie der mit ihr eröffneten Möglichkeit der Verknüpfung von Daten aus unterschiedlichen Beständen öffentlicher und privater Stellen. Die von der Befugnis erfassten Daten sind nach Art und Inhalt nicht eingegrenzt. Die gesondert genannten Identifizierungsdaten, also Name, Anschrift, Tag und Ort der Geburt stehen zwar im Vordergrund der Rasterfahndung. Hierauf beschränkt sich aber die gesetzliche Befugnis nicht. Vielmehr können auch alle anderen „für den Einzelfall benötigten Daten“ in die Fahndung einbezogen werden. Dementsprechend kann – wie vorliegend geschehen – das Ersuchen auf weitere Angaben etwa zur Religionszugehörigkeit, Staatsangehörigkeit, zum Familienstand und zur Studienfachrichtung erstreckt werden. Hinzu kommt, dass sich aus der Zusammenführung und Kombination der übermittelten und sonstigen Datenbestände und ihrem wechselseitigen Abgleich vielfältige neue Informationen gewinnen lassen. Sie können nach Art und Inhalt eine besonders starke Persönlichkeitsrelevanz besitzen und Persönlichkeitsbilder ermöglichen. Die Weite der Zugriffsbefugnis wird zudem dadurch verstärkt, dass das nordrhein- westfälische Polizeigesetz keine Begrenzung des Umfangs der erfassten Daten vorsieht. Die Übermittlung kann von allen öffentlichen Stellen und Stellen außerhalb des öffentlichen Bereichs verlangt werden.
Die Intensität des Eingriffs ergibt sich auch mit dem Blick auf etwaige aus der Rasterfahndung resultierende weitere Folgen für die Betroffenen. Die Rasterfahndung begründet für die betroffenen Personen ein erhöhtes Risiko, Ziel weiterer behördlicher Ermittlungsmaßnahmen zu werden. Dies hat etwa der Verlauf der nach dem 11. September 2001 durchgeführten Rasterfahndung gezeigt. Auch kann die Tatsache einer nach bestimmten Kriterien durchgeführten polizeilichen Rasterfahndung als solche – wenn sie bekannt wird – Vorurteile reproduzieren und die betroffenen Bevölkerungsgruppen in der öffentlichen Wahrnehmung stigmatisieren.
Von Bedeutung ist schließlich, dass § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 verdachtslose Grundrechtseingriffe mit großer Streubreite vorsieht. Die Vorschrift setzt nicht voraus, dass der Adressat der Eingriffsmaßnahme für die Gefahr verantwortlich ist. Es können alle Personen einbezogen werden, welche die Auswahlkriterien erfüllen, ohne dass es Anforderungen an die Nähe dieser Personen zur Gefahr oder zu verdächtigen Personen gibt. Gegenüber den für die frühere Rasterfahndung typischen Konstellationen wird die Verdachtslosigkeit der Maßnahme noch erhöht, wenn – wie dies bei terroristischen „Schläfern“ angenommen wurde – gerade die Unauffälligkeit und Angepasstheit des Verhaltens zu einem maßgeblichen Kriterium der Suche erhoben wird.
c) Angesichts des Gewichts der mit der Durchführung einer Rasterfahndung einhergehenden Grundrechtseingriffe ist diese nur dann angemessen, wenn der Gesetzgeber rechtsstaatliche Anforderungen dadurch wahrt, dass er den Eingriff erst von der Schwelle einer hinreichend konkreten Gefahr für die bedrohten Rechtsgüter an vorsieht. Im Vorfeld einer konkreten Gefahr scheidet eine Rasterfahndung aus. Selbst bei höchstem Gewicht der drohenden Rechtsgutbeeinträchtigung kann auf das Erfordernis einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts nicht verzichtet werden. Denn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet, dass der Gesetzgeber intensive Grundrechtseingriffe erst von bestimmten Verdachts- oder Gefahrenstufen an vorsehen darf.
§ 31 PolG NW 1990 nennt als Eingriffsschwelle die gegenwärtige Gefahr. Dies genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Die Anknüpfung an eine gegenwärtige Gefahr ist jedoch nicht von Verfassungs wegen geboten. Unter dieser Voraussetzung würde die Rasterfahndung regelmäßig zu spät kommen, um noch wirksam sein zu können. Verfassungsrechtlich ausreichend ist es, wenn der Gesetzgeber die Zulässigkeit der Rasterfahndung an das Erfordernis einer konkreten Gefahr für die betroffenen hochrangigen Rechtsgüter knüpft. Vorausgesetzt ist danach eine Sachlage, bei der im konkreten Fall die hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass in absehbarer Zeit ein Schaden für diese Rechtsgüter eintreten wird. Eine konkrete Gefahr in diesem Sinne kann auch eine Dauergefahr sein. Für die Annahme einer etwa von so genannten terroristischen Schläfern ausgehenden konkreten Dauergefahr sind allerdings hinreichend fundierte konkrete Tatsachen erforderlich. Eine allgemeine Bedrohungslage, wie sie in Hinblick auf terroristische Anschläge seit dem 11. September 2001 durchgehend bestanden hat, oder außenpolitische Spannungslagen reichen für die Anordnung der Rasterfahndung nicht aus. Die der Gefahrenfeststellung zugrunde gelegten Annahmen und Schlussfolgerungen müssen vielmehr auf weiteren konkreten Tatsachen beruhen, etwa solchen, die auf die Vorbereitung oder Durchführung terroristischer Anschläge hindeuten.
2. Die angegriffenen Entscheidungen genügen den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht. Sie beruhen auf einer diesen Grundsätzen widersprechenden ausweitenden Auslegung des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990. Sie lassen außer Acht, dass die Verfassungsmäßigkeit der Anordnung an das Vorliegen zumindest einer konkreten Gefahr gebunden ist und der dafür geforderte Grad der Wahrscheinlichkeit einer Rechtsgutverletzung nicht nur mit Rücksicht auf die Größe eines möglichen Schadens, sondern auch im Hinblick auf die Schwere des Eingriffs und die Eignung der Maßnahme zu seiner Abwehr zu bestimmen ist. Demgegenüber hat das Landgericht es schon für hinreichend erachtet, dass „die Möglichkeit eines besonders gravierenden Schadenseintritts nicht ausgeschlossen“ ist, und das Oberlandesgericht will eine nur „entfernte Möglichkeit eines Schadenseintritts“ ausreichen lassen. Sind – wie das Oberlandesgericht für die damalige Situation ausführt – „konkrete Anzeichen für Terroranschläge in Deutschland nicht bekannt“, sondern besteht lediglich eine auf Vermutungen beruhende „Möglichkeit solcher Anschläge“, dann handelt es sich bei der dennoch durchgeführten Rasterfahndung um eine Maßnahme im Vorfeld der Gefahrenabwehr, nicht aber um die Abwehr einer konkreten Gefahr.
Die Entscheidung ist zu 2. mit 6 : 2 Stimmen, im Ãœbrigen einstimmig ergangen.
Sondervotum der Richterin Haas:
Mit der Senatsmehrheit hält die Richterin Haas § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 für verfassungsgemäß, wenn auch aus anderen Gründen. Der Staat gewährleiste mit der Sicherheit zugleich auch die Freiheit des Einzelnen; denn Sicherheit sei Grundlage der Freiheit und deshalb Teil derselben. Demgegenüber seien die zur Stärkung der Freiheit durch die Rasterfahndung notwendigen Eingriffe in Grundrechte der Betroffenen, die wie alle anderen Personen auch von eben dieser Freiheitssicherung profitieren, von nur geringem Gewicht. Die Maßnahme der Rasterfahndung sei ein Eingriff von minderer Intensität schon deshalb, weil nur solche Daten erfasst und abgeglichen würden, die bereits vom Betroffenen offenbart und in Dateien mit seiner Kenntnis gespeichert worden seien. Anders als die Senatsmehrheit sieht Richterin Haas jedoch keinen Grund, die Auslegung und Anwendung des § 31 Abs. 1 PolG NW 1990 durch das Oberlandesgericht verfassungsrechtlich zu beanstanden. Das Oberlandesgericht sei zu Recht von einer hinreichenden Tatsachengrundlage für eine terroristische Gefahr ausgegangen. Angesichts der Bedrohungslage für eine Vielzahl unschuldiger Menschen sei es von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden, dass das Oberlandesgericht hier dem Interesse des Betroffenen wie dem aller Bürger an der Gewährleistung von Sicherheit und Freiheit ein höheres Gewicht zugemessen hat als den von dem Beschwerdeführer hinzunehmenden Beeinträchtigungen. Abschließend merkt Richterin Haas noch an, dass die Senatsmehrheit mit ihrer Festlegung auf die konkrete Gefahr als Einschreitschwelle der Rasterfahndung über den vom Fall her gebotenen Prüfungsumfang hinausgegangen sei. Der Rechtsstaat erfahre durch die Entscheidung keine Stärkung, sondern die von der Senatsmehrheit formulierten Voraussetzungen an die Rasterfahndung machten den Staat gegenüber drohenden Terrorangriffen wehrlos.
Quelle: Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung zum Beschluss vom 4. April 2006, Az. 1 BvR 518/02
Ekrem Senol – Köln, 23.05.2006